Wie hat sich die Ukraine seit der Unabhängigkeit entwickelt?
Source: Ukraine-Analysen Nr. 255 vom 28.09.2021
Von Olexiy Haran (Nationale Universität Kiew-Mohyla-Akademie)
Einleitung
1990 boten nur 45 % aller Schulen der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik Unterricht auf Ukrainisch an und nur 10 % aller Vorlesungen an Universitäten fanden auf Ukrainisch statt. Es gab die Möglichkeit, sich vom ukrainischen Sprachunterricht in der Schule befreien zu lassen. Obwohl ich mich immer als Ukrainer fühlte, konnte ich also nicht fließend Ukrainisch sprechen. Über Russifizierung zu sprechen war damals gefährlich, ich hätte von der Universität verwiesen werden können. Zur »Beruhigung« wurde argumentiert, dass zum Beispiel die Iren ihre Sprache, das Irisch-Gälische, auch nicht sprechen würden, aber trotzdem in ihrer Identität Iren blieben. Aber die Iren hatten einen Vorteil gegenüber den Ukrainern. Im Gegensatz zu den Briten waren sie Katholiken, und das half ihnen, ihre Identität zu bewahren.
Bei den Ukrainern und Russen hingegen wurde versucht alles zusammen zu fassen: die Sprache, die Kirche, die Geschichte – ganz nach Leonid Breschnews Konzept einer »neuen historischen Gemeinschaft – eines einheitlichen sowjetischen Volkes«. Auch im Westen fehlte eine Vorstellung davon, was die Ukraine sei. Margaret Thatcher lehnte 1990 die Idee einer Unabhängigkeit der Ukraine ab mit der Begründung: »Können Sie sich die Trennung Kaliforniens von den Vereinigten Staaten vorstellen« (!).
Politische Nation
Daher wurde die Unabhängigkeit zum Schlüssel zur Bewahrung und Entwicklung der ukrainischen Nation. Aktuelle Umfragen der Stiftung »Demokratische Initiativen Ilko Kutscheriw« und des Razumkov-Zentrums zeigen, dass trotz erheblicher regionaler Unterschiede in allen Regionen die Mehrheit der Ukrainer inzwischen dafür ist, dass alle Bürger der Ukraine die Staatssprache sprechen können; dass Ukrainisch die Kommunikationssprache von Beamten und Staatsoberhäuptern sein sollte; dass an allen öffentlichen Schulen die meisten Fächer in der Staatssprache unterrichtet werden.
Trotz eines deklarativen »Internationalismus« handelte die Sowjetregierung tatsächlich nach dem Prinzip »teile und herrsche«. Neben der Russifizierung von »jedem und allem«, standen ein de facto offizieller (wenn auch formal versteckter) Antisemitismus, die Weigerung den Krimtataren die Rückkehr in ihre Heimat zu erlauben u. ä.. Es ist deshalb wichtig zu verstehen, dass es bei der ukrainischen Nationsbildung um die Schaffung einer ukrainischen politischen Nation geht, die Vertreter verschiedener ethnischer Gruppen, Religionen und Sprachgruppen umfasst. Das Scheitern von Putins »Russischem Frühling« 2014 in der Ostukraine hat dies deutlich gezeigt. Die absolute Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung (85 %) teilt eine nationale Identität und betrachtet sich in erster Linie als Bürger der Ukraine. Die auf das ganze Land bezogene Identität überwiegt die regionale Identität überall ohne große Unterschiede (90 % in der Westukraine, 83 % in der Ostukraine).
Außenpolitische Orientierung
Wer hätte sich Ende der 1980er Jahre vorstellen können, dass sich die Ukraine der EU annähern wird? Aber es passierte und nach 2014 verlor die pro-russische Orientierung bezogen auf die Außenpolitik vollständig an Bedeutung, wie Grafik 1 zeigt.
Die Wahl fiel also zugunsten der Europäischen Union. Sogar noch mehr: während die Ukrainer sich früher von der Nato distanzierten, gibt es jetzt auch eine Mehrheit für den Beitritt der Ukraine in die NATO. Angesichts der Aggression des Kremls lehnen die Ukrainer »Frieden um jeden Preis«, also Frieden zu Putins Bedingungen, ab.
Demokratie
Die Ukraine ist eine Demokratie, wenn auch instabil und unvollständig – aber dennoch eine Demokratie. Tatsächlich wurden seit der Perestroika und der Unabhängigkeit 1991 die wichtigsten Entscheidungen im Land durch Kompromisse getroffen. So unterschied sich die Ukraine von vielen Sowjetrepubliken dadurch, dass sie dank einer Absprache zwischen der nationaldemokratischen Opposition und den »National-Kommunisten« friedlich und ohne interne ethnische Konflikte ihre Unabhängigkeit erlangte. Darüber hinaus wählte die Ukraine als erster GUS-Staat bei den demokratischen Wahlen 1994 sowohl den Präsidenten als auch das Parlament komplett neu. Selbst die Verfassung der Ukraine wurde 1996 als Kompromiss zwischen Präsidenten und Parlament verabschiedet. Ganz im Gegensatz zu Russland, wo 1993 der Verabschiedung der Verfassung in einem Referendum die Erstürmung des Parlaments auf Befehl des demokratischen Präsidenten Boris Jelzin vorausging.
In der Ukraine mussten nach der Verabschiedung der Verfassung von 1996 Präsident und Parlament nebeneinander existieren, weil keine Seite genug Vollmachten besaß, um die andere auszuschalten. Die politische Opposition in der Ukraine war stark. Die Regierung musste auch die Interessen der verschiedenen Regionen berücksichtigen. Damit war dieses System ausgewogener als das russische Modell. In der Ukraine entstand aus Sicht der westlichen Politikwissenschaft »pluralismus by default«, also ungeplanter und unbeabsichtigter Pluralismus.
Ein weiterer Unterschied zwischen der ukrainischen und der russischen politischen Kultur ist die Bedeutung des Individualismus. Dieser zeigt sich zum Beispiel bei der lokalen Selbstverwaltung (Magdeburger Gesetz für Städte der polnisch-litauischen Epoche), beim privaten Landbesitzes (im Gegensatz zu Russland war der kommunale Besitz in der Ukraine immer viel schwächer verankert) und geringerer Unterstützung für einen autoritären Führer, der mit »starker Hand« Ordnung schafft.
Derzeit glauben 54 % Ukrainer, dass die Demokratie die wünschenswerte Regierungsform für die Ukraine ist. Dabei zeigt der Trend nach oben, wie Grafik 2 zeigt. Umgekehrt glauben nur 20 %, dass ein autoritäres Regime unter bestimmten Umständen besser sein kann als ein demokratisches. Wichtig ist auch, dass 72 % der Befragten erklären, dass selbst eine starke Führungskraft Gesetze nicht verletzen darf.
Die größten Probleme hat die Ukraine im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung. Mittlerweile gibt es aber in der Ukraine ganze Bereich, die frei von Korruption sind. Als Professor der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie freut es mich besonders, dass durch die Einführung eines einheitlichen unabhängigen Prüfungsverfahrens die Zulassung zum Universitätsstudium jetzt frei von Bestechung und Vetternwirtschaft ist.
Identität
Im historischen Gedächtnis und im Bereich der Dekommunisierung wurden seit der ukrainischen Unabhängigkeit enorme Veränderungen vollzogen. In diesen Bereichen gehen die Ansichten von Russen und Ukrainern immer weiter auseinander. 62 % der Ukrainer (und die Mehrheit in allen Regionen) sehen Stalins Rolle in Bezug auf die Ukraine negativ. 48 % der Ukrainer unterstützen die Meinung, dass der Zweite Weltkrieg als Folge einer geheimen Absprache zwischen Hitler und Stalin zur Aufteilung der Einflusssphären in Europa entstand (29 % stimmen nicht zu, weitere 23 % sind unentschlossen). Auch hier stimmt in allen Regionen die Mehrheit zu, wobei allerdings in der Ostukraine Zustimmung und Ablehnung fast gleich sind.
Umfragen zeigen, dass eine wachsende Zahl der Ukraine »stolz« auf ihr Land ist. Wie Grafik 3 zeigt, ist dieser Wert von etwa 40 % im Jahr 2002 auf aktuell über 70 % gestiegen. Ein erstaunlicher Anstieg. Und das trotz all unserer Probleme, sozioökonomischen Nöte, Kriege und der hysterischen Schreie in den Medien und sozialen Netzwerken #allesistschlecht (#всьопропало). Ist das kein Grund für Optimismus?
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines
Lesetipps / Bibliographie
- Olexiy Haran (2021): Від Брежнєва до Зеленського: дилеми українського політолога, Kiew: Stilos-Verlag / Friedrich-Naumann-Stiftung. Volltext online verfügbar unter: https://dif.org.ua/article/oleksiy-garan-vid-brezhneva-do-zelenskogo-dilemi-ukrainskogo-politologa