Frieden- Ja, Bitte! Aber nicht um jeden Preis
Die Entscheidung von Präsident Selenskyj, die Steinmeier-Formel zu akzeptieren, sorgt für heftige Diskussionen und große Demonstrationen im Land. In einer Umfrage von Mai 2019 gaben knapp 90% der Ukrainer an, dass die Lösung des Konfliktes in der Ostukraine höchste politische Priorität haben sollte, jedoch fanden nur 30% der Ukrainer den „Sonderstatus“ für die nicht von der Regierung kontrollierten Gebiete im Donbas akzeptabel. Was also möchte die Bevölkerung? Maria Zolkina geht dieser Frage nach.
Durch die aktuellen Versuche, die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über eine Konfliktlösung im Donbas wieder aufleben zu lassen, steht nun auch die zukünftige Legitimierung verschiedener Kompromisse durch die ukrainische Bevölkerung im Mittelpunkt. In den vier Ländern des Normandie-Formats versuchte man auf politischer Ebene, einen neuen Gipfel einzuberufen und eine mögliche Basis für Kompromisse zu finden. Russland machte die Durchführung eines Normandie-Gipfels von folgenden Bedingungen abhängig: Erstens, die Bestätigung der sogenannten Steinmeier-Formel und zweitens, trotz des fehlenden Erfolgs beim Rückzug in Stanyzja Luhanska machte Russland die Durchführung eines Normandie-Gipfels von Garantien für den Abzug der Streitkräfte aus zwei Gebieten (Solote und Petrowske) abhängig.
Obwohl der ukrainische Außenminister der Steinmeier-Formel insgesamt zustimmt, hat er selbst ebenfalls klare Vorbedingungen für deren Umsetzung gestellt. Bei der Steinmeier-Formel handelt es sich ursprünglich um den Vorschlag, dass das Gesetz über den „Sonderstatus“ der nicht staatlich kontrollieren Gebiete (NGCA) im Donbas übergangsweise mit den lokalen Wahlen dort in Kraft tritt und mit dem positiven Abschlussbericht der OSZE über gerecht abgelaufene Wahlen einen permanenten Status erhält. Die Ukraine fordert, dass die Wahlen in einem sicheren Umfeld ablaufen und damit konkret eine stabile Waffenruhe, eine Demilitarisierung der Region und den Abzug aller ausländischen Truppen und Waffen aus den NGCA. Erst dann könnten die Wahlvorbereitungen getroffen und unter Einhaltung der ukrainischen Gesetze und der Wahlstandards der OSZE Wahlen abgehalten werden. Die Ergebnisse einer „lebhaften“ Diskussion auf höchster Ebene des Normandie-Formats sind bisher nicht absehbar, aber eines ist klar, messbar und vorhersehbar: die öffentliche Meinung über mögliche Szenarien der Wiedereingliederung, akzeptable und inakzeptable Kompromisse. Sie setzt der Legitimierung bestimmter Konfliktlösungsansätze klare Grenzen.
Der Wunsch nach Frieden ist nicht bedingungslos
Seit 2015 bevorzugt die ukrainische Öffentlichkeit eine friedliche Lösung gegenüber einer militärischen. Das ist aber nicht mit der Bereitschaft zum Frieden „um jeden Preis“ zu verwechseln. Die Meinungsumfrage aus dem Juni 2019 zeigt, dass zwar 69 % der Bevölkerung für einen Kompromiss sind, aber nur 20 % von ihnen einen Frieden „um jeden Preis“ akzeptieren würden, während 49 % denken, dass Frieden durch Verhandlungen erzielt werden sollte, aber nicht „um jeden Preis“.
Die Gesellschaft ist nicht bereit für schmerzhafte politische Zugeständnisse gegenüber Russland
Der Konfliktlösung im Donbas wurde von 89 % der Ukrainer im April/Mai 2019 die größte Bedeutung beigemessen (auf einer fünf-Punkte-Skala). Dennoch sind die Ukrainer nicht bereit, die schmerzhaften, von Russland vorgeschlagenen Kompromisse zu akzeptieren. Im Juni 2019 war der „Sonderstatus“ der NGCA im Donbas für 50 % der Befragten nicht hinnehmbar und nur 30 % fanden ihn akzeptabel. Beim Status der russischen Sprache als zweiten Amtssprache, der Zustimmung zu besonderen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der vorübergehend besetzen Gebiete mit Russland sowie dem blockfreien Status der Ukraine ist die Lage ähnlich. Allerdings gibt es regionale Unterschiede: Ende 2018 waren diese Kompromisse für die Mehrheit der Befragten in den von der Regierung kontrollieren Gebieten (GCA) im Donbas annehmbar. Allerdings gibt es drei Kompromisse, die im gesamten Land, inklusive der GCA im Donbas, abgelehnt werden.
Welche Kompromisse halten Sie für annehmbar, um den Krieg im Donbas zu beenden?
Ukraine, Juni 2019 | Donbas, November 2018 | ||
Annehmbar | Inakzeptabel | Annehmbar | |
Umfassende Amnestie für alle, die gegen das ukrainische Militär kämpfen | 15,5 | 61,5 | 26,9 |
Abhaltung von Wahlen in vorübergehend besetzten Gebieten zu den Bedingungen der Kämpfer | 13,4 | 65,6 | 30,1 |
Schaffung einer lokalen Polizei, lokaler Gerichte und Staatsanwaltschaften in den vorübergehend besetzten Gebieten ausschließlich durch lokale Behörden | 17,7 | 58,3 | 26,7 |
Demnach können die sicherheitsrelevanten Vorbedingungen für den „Sonderstatus“ nicht nur am gemeinsamen Abzug der Streitkräfte festgemacht werden, und politische Entscheidungen über Pseudo-Wahlen werden von der Mehrheit, auch an der Frontlinie im Donbas, nicht anerkannt. Falls doch, so steigt das Risiko innerer Destabilisierung und Delegitimierung der neuen Behörden in Kyjiw wie es Ende August 2015 passierte, als der Versuch unternommen wurde, den „Sonderstatus“ für die NGCA im Donbas verfassungsmäßig umzusetzen.
Politische Wiederherstellung der Vorkriegssituation?
Die öffentliche Meinung darüber, wie die NGCA wieder in die Ukraine eingebunden werden sollten, ist unverändert. Im Juni 2019 waren 54 % der Ukrainer dafür, diese Gebiete zu den Vorkriegsbedingungen wieder zu integrieren (d. h. ohne „Sonderstatus“), während 16 % bereit waren, ihnen etwas mehr Autonomie zuzusprechen. Bemerkenswert ist, dass sogar an der Frontlinie im Donbas 50 % dafür waren, den Vorkriegsstatus wiederherzustellen, obwohl mehr Personen für die Autonomie stimmten (28 % im November 2018).
Somit sorgen auch die stärkere Sehnsucht nach Frieden und die direkten Folgen des Konflikts im ukrainisch kontrollierten Donbas nicht für eine Akzeptanz schmerzhafter Konflikte, auf die Russland noch immer beharrt. Stattdessen könnte der Donbas die Vorteile einer Dezentralisierung genauso wie andere Regionen durch die Dezentralisierungsreform in der Ukraine erreichen.