Im Donbas ver­traut man immer noch Wolo­dy­myr Selen­skyj, glaubt aber nicht mehr an den „schnel­len Frieden“

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20 May 2020
Petro Burkovskiy

Executive Director

Während der ein­jäh­ri­gen Prä­si­dent­schaft von Wolo­dy­myr Selen­skyj fand im ukrai­nisch kon­trol­lier­ten Teil des Donbas eine wich­tige Ände­rung der öffent­li­chen Meinung statt – eine wach­sende Zahl von Bürgern (an-)erkennt die Rolle Russ­lands in diesem Kon­flikt und ist mit einem Frieden um jeden Preis nicht ein­ver­stan­den. Von Petro Bur­kovs­kyi

Der Donbas ist kein ein­heit­li­cher Orga­nis­mus, obwohl er im Westen und von vielen Ukrai­nern oft als solcher dar­ge­stellt wird. Man kann diese Region der Ukraine als ein Spie­gel­bild der ukrai­ni­schen post-Maidan-Gesell­schaft bezeich­nen. Das erlebte ich selbst, als ich mich an einer großen Mei­nungs­um­frage in den Regio­nen Donezk und Luhansk betei­ligte, die seit 2015 von der Stif­tung für demo­kra­ti­sche Initia­ti­ven jähr­lich durch­ge­führt wird.

Dieses Jahr wurde unsere Mei­nungs­um­frage elf Monate nach den Prä­si­dent­schafts­wah­len und sechs Monate nach der Amts­ein­füh­rung der neuen Regie­rung und der neuen Gou­ver­neure durch­ge­führt. Deshalb waren wir während der reprä­sen­ta­ti­ven Befra­gung der Bürger (1000 Befragte) im Donbas nicht nur an Ant­wor­ten auf tra­di­tio­nelle Fragen über Krieg und Frieden und am Wohl der Bürger*innen inter­es­siert, sondern auch an der Bewer­tung der Arbeit der neuen Regie­rung.

Jeder hat seinen eigenen Selen­skyj

Laut der Februar-Umfrage ver­spürte die Mehr­heit der Ein­woh­ner des Donbas im All­ge­mei­nen keine wesent­li­che Ver­bes­se­rung des Lebens nach den Wahlen. Es gibt jedoch einen Unter­schied zwi­schen den Regio­nen:

Während 37 Prozent der Bürger der Region Donezk glauben, dass sich die Situa­tion in den ver­gan­ge­nen neun Monaten zum Bes­se­ren ver­än­dert hat, stimmen in der Region Luhansk nur 12 Prozent dieser Aussage zu.

Dies lässt sich dadurch erklä­ren, dass es im ukrai­nisch kon­trol­lier­ten Teil der Region Donezk mehr Städte mit erfolg­rei­chen Unter­neh­men gibt und auch das Durch­schnitts­ge­halt dort höher ist als in der Region Luhansk.

Es ist auch anzu­mer­ken, dass im Ver­gleich zur Umfrage im Novem­ber 2018 in der Region Donezk die Zahl derer eben­falls gestie­gen ist (von 43 Prozent Ende 2018 auf 54 Prozent Anfang 2020), die den Behör­den zutrauen mit den bestehen­den Pro­ble­men fertig zu werden. In Luhansk hin­ge­gen sah die Mehr­heit keine Ver­bes­se­rung der Arbeit der lokalen Ver­wal­tun­gen und Rat­häu­ser (ein Rück­gang von 31 Prozent auf 24 Prozent).

Die unter­schied­li­che Ein­stel­lung zur Pro­blem­lö­sung und zu den Kapa­zi­tä­ten der Behör­den kor­re­liert auch mit dem Ver­trau­ens­ni­veau gegen­über Prä­si­dent Selen­skyj. Während ihm in der Region Donezk mehr als 36 Prozent der Bürger ver­trauen, ist das Ver­trauen in ihn in der Region Luhansk neunmal gerin­ger.

Was ist der Grund für diese unter­schied­li­che Haltung?

Erstens hat man bei der Umfrage gesehen, dass die Men­schen in der Region Luhansk die Zukunft pes­si­mis­ti­scher ein­schät­zen, ins­be­son­dere was die mög­li­che fried­li­che und rasche Been­di­gung des Krieges betrifft. Und dies war eines von Selen­skyjs Haupt­ver­spre­chen bei den Prä­si­dent­schafts­wah­len. Die Umfrage bestä­tigte unsere Beob­ach­tun­gen: In der Region Donezk glauben die meisten Bürger, dass Selen­skyj in der Lage sein wird, einige Bezirke der Regio­nen Donezk und Luhansk inner­halb der nächs­ten 5 Jahre für die Ukraine zurück­zu­be­kom­men. In der Region Luhansk gibt es jedoch nur halb so wenige Men­schen, die an eine solche Zukunft glauben.

Zwei­tens ver­las­sen sich in der Region Luhansk mehr Bürger auf eine starke staat­li­che Für­sorge und Unter­stüt­zung. (Übri­gens wurde im Luhans­ker Nov­ops­kov zum ersten Mal eine kom­mu­nale Selbst­ver­wal­tung geschaf­fen). Dagegen gibt es in der Region Donezk mehr Men­schen, die den Staat eher als Partner denn als Gönner betrach­ten. Ins­be­son­dere hat die Umfrage gezeigt, dass mehr als die Hälfte der Befrag­ten in der Region Luhansk auf zusätz­li­che Geld­leis­tun­gen und Sub­ven­tio­nen für öffent­li­che Ver­sor­gungs­ein­rich­tun­gen hofft. In der Region Donezk sind es nur etwa vierzig Prozent. Und umge­kehrt hätte sich ein Viertel der Ein­woh­ner der Region Donezk Hilfe vom Staat gewünscht, um ein eigenes Unter­neh­men gründen zu können oder ihre beruf­li­chen Fähig­kei­ten zu ver­bes­sern. Aber diese Zahl ist in der Region Luhansk dreimal nied­ri­ger. Da pater­na­lis­ti­sche Erwar­tun­gen weit­ge­hend uner­füllt bleiben, hätten sich die Men­schen, die für Selen­skyj gestimmt haben, von ihm abwen­den können.

Drit­tens hörten wir während der Dis­kus­sio­nen in der in der Region Luhansk immer wieder, dass es mehrere Ver­su­che von Kan­di­da­ten gab, die Wähler in den Wahl­krei­sen zu bestechen. Ins­be­son­dere wurde öfters erwähnt, dass solche Metho­den vom Schachow-Team benutzt wurden, eine Gruppe von Kan­di­da­ten unter der Führung des lokalen auto­ri­tä­ren Luhans­ker Abge­ord­ne­ten Sergej Schachow (bekannt als einer der ersten, der während eines Luxu­s­ur­laubs in Cur­s­avel mit dem Coro­na­vi­rus infi­ziert wurde – Anmer­kung des Autors). Es zeigt sich, dass die Kyjiwer Staats­ge­walt weit weg ist, während die wirk­li­che „Hilfe“ von sehr unter­schied­li­chen Men­schen geleis­tet wird, die auch dau­er­haft die Regie­rung kri­ti­sie­ren.

All dies zeigt nur, dass Selen­skyj im Zusam­men­hang mit der Coro­na­vi­rus-Pan­de­mie und der Rezes­sion im Donbas eine neue Kraft­probe bevor­steht. Und die Situa­tion kann dort explo­die­ren, wo die Erwar­tun­gen der Öffent­lich­keit noch zuneh­men. Laut der Umfrage ist die Hälfte der Bewoh­ner der Region Donezk bereit, sich an Pro­tes­ten zu betei­li­gen, falls die Gründe wichtig genug sind, die For­de­run­gen der Pro­tes­tie­ren­den gerecht­fer­tigt und ihre Zahl aus­rei­chend ist. In der Luhansk Region beträgt das Pro­test­po­ten­tial weniger als ein Drittel.

Frieden hat höchste Prio­ri­tät, aber unter Bedie­nung

Wolo­dy­myr Selen­skyj wurde von Anfang an als Befür­wor­ter kon­struk­ti­ver Ver­hand­lun­gen mit Russ­land gesehen, im Unter­schied zu seinem Vor­gän­ger. Seine Gegner warfen ihm eine zu weiche, ver­söhn­li­che Rhe­to­rik vor und ver­däch­tig­ten ihn sogar, inak­zep­ta­ble Zuge­ständ­nisse zum Wohle des Frie­dens zu machen.

Dem­entspre­chend hätte man erwar­tet, dass die Posi­tion des Prä­si­den­ten sich bei seinen Anhän­gern wider­spie­gelt. Doch die Rea­li­tät erwies sich als kom­ple­xer und viel­schich­ti­ger.

Die bedeu­tendste Ent­de­ckung der neuen For­schung war die Tat­sa­che, dass zum ersten Mal während unserer Beob­ach­tun­gen die öffent­li­che Meinung der Ein­woh­ner des Donbas in einer Reihe von Posi­tio­nen nicht mehr von der öffent­li­chen Stim­mung im ganzen Land abweicht.

Noch im Novem­ber 2018 glaubte eine Mehr­heit der Bürger der Regio­nen Donezk und Luhansk, dass man einen “belie­bi­gen Kom­pro­miss für Frieden ein­ge­hen sollte“ (45 Prozent bzw. 47 Prozent). Nun teilt die Hälfte der Befrag­ten in beiden Regio­nen eine andere Meinung: „Um Frieden zu errei­chen, kann man Kom­pro­misse ein­ge­hen, aber nicht jeden“. Es ist bezeich­nend, dass dies auch die Meinung der Mehr­heit der Bürger im ganzen Land ist.

Darüber hinaus bejahte die Mehr­heit der Befrag­ten in beiden Regio­nen die Frage, ob sie Russ­land für eine Kon­flikt­par­tei halten (76 Prozent in der Region Donezk und 46 Prozent in der Region Luhansk). Ein etwas anderes Bild ergibt sich, was die Wahr­neh­mung der Art der rus­si­schen Inter­ven­tion betrifft. Zwei Drittel der Befrag­ten in der Region Donezk sind davon über­zeugt, dass es einen Krieg zwi­schen der Ukraine und Russ­land gibt. Gleich­zei­tig stimmt etwas mehr als ein Drittel in der Region Luhansk dieser Inter­pre­ta­tion zu, während 43 Prozent diese Meinung nicht teilen.

Es gab auch inter­es­sante Ver­än­de­run­gen in der Haltung der Ein­woh­ner des Donbas zu einigen Schlüs­sel­punk­ten des Minsker Abkom­mens.

Einer­seits unter­stüt­zen die Hälfte der Ein­woh­ner von Donezk und 70 Prozent der Ein­woh­ner der Region Luhansk die Initia­tive zu direk­ten Ver­hand­lun­gen zwi­schen DNR/​LNR. Außer­dem steht die Hälfte der Befrag­ten in Donbas einen „Son­der­sta­tus“ für einige Bezirke der Regio­nen Donezk und Luhansk positiv gegen­über.

Wenn es ande­rer­seits aber um die Zuge­ständ­nisse der Ukraine im Rahmen des Minsker Abkom­men geht, so ist die Haltung der Bürger recht hart. Ins­be­son­dere ist die Mehr­heit der Ein­woh­ner des Donbas gegen eine voll­stän­dige Amnes­tie für alle mili­tan­ten Gruppen. Darüber hinaus spra­chen sich 67 Prozent in der Region Donezk und 35 Prozent in der Region Luhansk gegen Kom­mu­nal­wah­len unter den Bedin­gun­gen dieser mili­tan­ten Gruppen aus. Ein ebenso nega­ti­ves Bild zeigt sich bei der Ein­stel­lung der Bürger gegen­über der Idee, die lokale Polizei, Gerichte und Staats­an­wälte in den Regio­nen Donezk und Luhansk aus­schließ­lich aus Ver­tre­tern der „DNR“ und „LNR“ zu bilden.

Auf die Frage über mög­li­che Wege zum Errei­chen eines nach­hal­ti­gen Frie­dens ent­schie­den sich zudem nur 19 Prozent der Ein­woh­ner von Donezk und 38 Prozent der Region Luhansk für die Vari­ante direkte Ver­hand­lun­gen mit „DNR“ und „LNR“ und erkann­ten diese als legi­time Auto­ri­tä­ten in bestimm­ten Bezir­ken der Regio­nen Donezk und Luhansk an. Gleich­zei­tig wün­schen sich 59 Prozent in den besetz­ten Gebie­ten der Region Donezk und 40Prozent der Region Luhansk, dass „DNR“ und „LNR“ sich wieder den Bezir­ken Donezk und Luhansk anschlie­ßen, so wie es früher der Fall war.

Was folgt aus all dem?

Wenn wir in Betracht ziehen, dass es in den besetz­ten Gebie­ten der Region Donezk viel mehr Bürger gibt als in der Region Luhansk, so stellt man fest, dass die Mehr­heit der Bürger im Donbas aus ver­schie­de­nen Gründen zu der Schluss­fol­ge­rung kamen, dass Russ­land für die Kampf­hand­lun­gen und die Ver­wal­tung der soge­nann­ten „selbst­er­nann­ten Repu­bli­ken“ die Ver­ant­wor­tung trägt.

Viele Men­schen haben die Illu­sion auf­ge­ge­ben, dass man den Kon­flikt schnell und durch ein­sei­tige Zuge­ständ­nisse beenden könne.

Gleich­zei­tig wollen die Men­schen in Donbas natür­lich einen dau­er­haf­ten Waf­fen­still­stand und Frieden, sowie die Mög­lich­keit, die ver­wandt­schaft­li­chen und die wirt­schaft­li­chen Bezie­hun­gen zu den besetz­ten Gebie­ten wie­der­her­zu­stel­len.

Es stellt sich heraus, dass die Staats­ge­walt in Kyjiw und die lokale Bevöl­ke­rung im Donbas bisher in par­al­le­len Welten leben. Während die Ver­hand­lungs­füh­rer von Selen­skyj die Ein­rich­tung gemein­sa­mer „bera­ten­der Gremien“ mit Ver­tre­tern der DNR/​LNR zum Zwecke der Reinte­gra­tion nicht aus­schlie­ßen, sehen die ein­fa­chen Bürger in den Regio­nen Donezk und Luhansk nur dann einen Sinn in solchen Ver­hand­lun­gen, wenn sie eine voll­stän­dige Ein­stel­lung der Kampf­hand­lun­gen und ein Ende der rus­si­schen Inter­ven­tion garan­tie­ren.

Falls es bei Selen­skyj einen „Plan B“ gibt, wäre es daher Zeit, ihn zu zeigen, um sich den Respekt der Men­schen im Donbas sowie ihr Ver­trauen zu bewah­ren. Hier muss man sich an die Worte des der­zei­ti­gen poli­ti­schen Emi­gran­ten und ehe­ma­li­gen Gou­ver­neurs der Region Donezk Wiktor Janu­ko­wytsch erin­nern, der einmal sagte: „Der Donbas macht keine Leer­fahr­ten”, das heißt, man wird keine wei­te­ren fünf Jahre leerer Ver­spre­chun­gen akzep­tie­ren.