Selenskyj richtet sich in der Komfortzone ein
Der Rücktritt der sogenannten „Regierung der Technokraten“ und das Misstrauensvotum gegen den Generalstaatsanwalt entbinden Wolodymyr Selenskyj von der Notwendigkeit, sich mit der Realität auseinanderzusetzen
Von Petro Burkovskyi ist Senior Fellow der Stiftung Demokratische Initiative in Kyjiw.
Gerade erst sechs Wochen ist es her, seit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dem Premierminister Oleksij Hontscharuk vor dem gesamten Land sein Vertrauen aussprach und dessen Regierung die Chance gab, sich zu beweisen.
Tatsächlich hat Selenskyj Zeit gewonnen, Zeit, in der seine Vertrauten, der neue Leiter des Präsidialbüros Andrij Jermak und der Berater Serhiy Shefir, nicht nur für den Premierminister, sondern auch für die meisten Regierungsmitglieder Ersatz finden konnten.
Wie sich das neue Kabinett zusammensetzt, und die Tatsache, dass auch der Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboshapka entlassen wurde – dies zeigt deutlich, wer in Selenskyjs Team wie und warum Entscheidungen trifft.
Vorspiel zur großen Säuberung
Während des halben Jahres im Amt sind der Regierung Hontscharuk keine schwerwiegenden Fehler unterlaufen. Sie hatte aber auch keine schnellen Lösungen anzubieten, die für Selenskyjs Wähler sichtbare und verständliche Ergebnisse brachten.
Den jungen Hipster-Technokraten war es nicht gelungen, die im Staatshaushalt eingeplanten Zolleinnahmen zu erzielen, die Lohnrückstände der Bergleute im Osten und Westen des Landes rasch auszugleichen und die Gaspreise für die Bevölkerung zu senken. Ihre Versuche, den Grund-und-Boden-Markt gesetzlich neu zu regeln und eine vereinfachte Arbeitsgesetzgebung zu verabschieden, um so die Grundlage für Wirtschaftswachstum zu schaffen, stießen selbst innerhalb der präsidententreuen Partei „Diener des Volkes“ auf aktiven Widerstand.
Die Entscheidung, große Staatsunternehmen transparent zu privatisieren und eine gütliche Einigung mit den ehemaligen Aktionären der „Privatbank“ abzulehnen, brachte zwei der größten Oligarchen des Landes, Ihor Kolomoisky und Rinat Achmetow, gegen die Regierung auf.
Die zweite Front gegen das Kabinett wurde von Viktor Medwedtschuk eröffnet, dem Vorsitzenden der pro-russischen Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“. Seine Fernsehsender starteten eine regelrechte Kampagne gegen die Regierung. Rund um die Uhr erklärten sie den Ukrainern, die Regierung befände sich vollständig unter der Kontrolle des US-amerikanischen Milliardärs George Soros und des US-Außenministeriums. Für alle pro-westlichen Minister und Abgeordneten wurde zudem eigens eine neue Beleidigung erfunden: „Sorosjata“, also Kinder von Soros (ein Wort, das im Ukrainischen und Russischen mit Ferkeln assoziiert wird).
Neues Kabinett: Die Teile des Puzzles
Trotz aller Versuche der Einflussnahme durch graue Eminenzen der ukrainischen Politik hing das Schicksal der Regierung vollständig von Wolodymyr Selenskyi ab. Dennoch war er nicht bereit, die nach seinen Rahmenentscheidungen gebildete Regierung aktiv zu verteidigen und die Verantwortung für komplexe Entscheidungen und auch für Fehler mitzutragen. Die Regierung sollte gute Neuigkeiten und Erfolge produzieren, und nicht Probleme mit Selenskyjs Beliebtheitswerten verursachen.
Vielleicht war es der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, dass heimlich aufgezeichnete Besprechungen des Premierministers geleakt wurden. Regierungsmitglieder hatten sich dabei offen, wenn auch zurückhaltend und durchaus höflich, über die Inkompetenz des Präsidenten in Wirtschaftsfragen geäußert.
Durch den Rücktritt der Regierung Hontscharuk schlug Selenskyj zwei Fliegen mit einer Klappe. Sämtliche Misserfolge wurden den Technokraten angehängt. Ersetzt wurden sie durch Personen mit mehr Erfahrung, die jedoch keine unabhängigen Entscheidungen treffen können und die möglicherweise bereit sind, sämtliche politische Anweisungen zu befolgen.
So wurde Denis Schmyhal zum neuen Premierminister ernannt – ein Mann, der bereits unter Janukowitsch und Poroschenko im Staatsdienst sowie als Topmanager in einer Firma von Rinat Achmetow tätig gewesen war. Am Tag nach seiner Ernennung bekundete er seine Bereitschaft, die Krim wieder mit Trinkwasser zu versorgen. Ähnliches hatten bereits Abgeordnete angekündigt, die Andrij Jermak, dem Leiter des Präsidialbüros und Chefunterhändler mit Russland, nahestehen. Selbst wenn diese Initiative scheitern sollte, würde hierfür der Premierminister kritisiert und nicht der Präsident.
Das Verteidigungsministerium und das Veteranenministerium werden von Karrieregenerälen geleitet, die keinerlei Autorität in den Streitkräften genießen. Sie hatten bereits unter Kutschma und Janukowitsch Karriere gemacht, zu einer Zeit, als die ukrainische Armee zusammengebrochen war und sich als unfähig erwies, der russischen Invasion auf der Krim und im Donbass zu widerstehen.
Das Innenministerium verblieb unter der Leitung von Arsen Awakow, obwohl diesem vorgeworfen wird, illegale Glücksspiele und paramilitärische nationalistische Gruppen zu protegieren und er versäumt hat, skandalöse Morde an Aktivisten der Zivilgesellschaft und Journalisten aufzuklären. Übrigens wurde Awakow im Mai letzten Jahres von Ihor Kolomojskyj offen als effektivster Minister bezeichnet. Am 3. März, am Vorabend der Ernennung der neuen Regierung, wiederholte Selenskyj diese Bewertung Wort für Wort.
Das Gesundheitsministerium wurde einem renommierten Herzchirurgen anvertraut. Als Minister unter Janukowitsch hatte dieser allerdings die Medikamentenversorgung für HIV-Patienten unterbunden und toleriert, dass staatliche Kliniken für kommerzielle Zwecke genutzt wurden. Heute tritt er offen für die Rücknahme der 2016 eingeleiteten Reformen ein.
Als Warnsignal wurde das Durchsickern von Informationen aus den Verhandlungen über die Besetzung des Energieministeriums und des Bildungsministeriums wahrgenommen. Der Energiesektor könnte von einem Strohmann Rinat Achmetows geleitet werden, die Aufsicht über Universitäten und Schulen könnte ein Günstling Viktor Medwedtschuks bekommen. Diese Entscheidungen sind zwar noch nicht getroffen, vervollständigen aber das Bild einer Regierung, die zwar für die Bedürfnisse von Oligarchen Verständnis hat, aber keinerlei Verständnis für Kritik, sofern sie nicht vom Präsidenten geäußert wird.
The Show Must Go On
Eine echte Überraschung bei den Umbesetzungen an der Staatsspitze war das Misstrauensvotum gegen Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka.
Erstens erklärten die das Misstrauensvotum auf den Weg bringenden Abgeordneten von „Diener des Volkes“ unverblümt, der Grund hierfür sei die mangelnde Bereitschaft des Generalstaatsanwalts, den ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Selenskyj billigte das Verhalten seiner Leute mit einem flotten: „Keine Ergebnisse (Verhaftungen), keine Amtsberechtigung“. Das Büro von Selenskyjy äußerte sich allerdings nicht zu einer weiteren öffentlichen Forderung dieser Abgeordneten. Sie hatten verlangt, der neue Generalstaatsanwalt müsse die Ermittlungen zu einer etwaigen Verwicklung des Sohnes von Joe Biden in Korruptionsfälle in der Ukraine und zur Einmischung von Poroschenko in die US-Wahl zugunsten von Hillary Clinton wieder aufnehmen. Somit ist nicht auszuschließen, dass in Selenskyjs Umgebung erneut ein gefährlicher Austausch von Gefälligkeiten mit Trump beworben wird.
Zweitens zeigte das Misstrauensvotum gegen Rjaboschapka, dass etwa 60 Abgeordnete der „Diener des Volkes“ mit der Personalentscheidung ihrer Kollegen und des Präsidenten nicht einverstanden waren. Um ihr Ziel zu erreichen, musste die Präsidentenpartei die Medwedtschuk-Fraktion und die ehemaligen Janukowitsch-Leute um Unterstützung bitten. Dies bedeutet: Auch wenn der neue Generalstaatsanwalt für Selenskyj ganz und gar „unser Mann“ wird, können zu seinen Stellvertretern trotzdem Leute werden, welche die Staatsanwaltschaft schon früher zur eigenen Bereicherung und Verfolgung ihrer Feinde benutzt haben.
Drittens wird ein absolut loyaler Generalstaatsanwalt in der Lage sein, ein Strafverfolgungsverfahren auch gegen den letzten relativ unabhängigen Leiter einer Justizbehörde einzuleiten, nämlich den Vorsitzenden des Nationalen Antikorruptionsbüros.
Sollte dies geschehen, kann Selenskyjs Gefolge die Weiterleitung sensibler Informationen an den Präsidenten vollständig kontrollieren und dabei jedem Mitglied des Teams Straffreiheit im Austausch gegen Loyalität garantieren. Die öffentliche Wahrnehmung kann unterdessen durch Skandale und Verhaftungen von Gegnern abgelenkt werden.
Wenn sich die Geschichte so fortsetzt, wird dies bereits der dritte Versuch sein, das Land auf den Präsidenten zuzuschneiden. Die Beispiele von Kutschma, Janukowitsch und teilweise sogar von Poroschenko allerdings zeigen, dass diese komfortable Blase des Präsidenten schnell und unerwartet platzen kann.