Ohne Frieden oder ohne Russland?
Petro Burkovsky,
Exekutivdirektor von Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation,
für die Friedrich Naumann Stiftung
Die größten Volkswirtschaften werden die Welt nach der Pandemie wohl ohne das aggressive nukleare Russland wieder aufbauen.
Der G20-Gipfel auf der indonesischen Insel Bali hat bestätigt, dass Frieden eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung bleibt. Im Bewusstsein dieses Zusammenhangs verzichten die größten Volkswirtschaften der Welt, insbesondere die USA und China, trotz scharfer politischer Widersprüche auf eine bewaffnete Konfrontation.
Gleichzeitig werden wirtschaftliche Rivalität und der Kampf um bessere Wettbewerbspositionen von vielen Regierungen oft als Vorwand für eine mildere Haltung gegenüber Diktatoren und Kriegsverbrechern benutzt, vor allem wenn diese über wertvolle kritische Ressourcen – Öl, Gas, Metalle der Seltenen Erden – verfügen.
Innerhalb der G20 keine Einigkeit über die Haltung zu Putins Aggression
Es sieht so aus, als würde Wladimir Putin, der Präsident Russlands, eine Ausnahme von dieser ungeschriebenen Regel der Weltpolitik bilden. In einer gemeinsamen Erklärung erkannten die Staats- und Regierungschefs der G20 an, dass Putins Krieg in der Ukraine eine Bedrohung für die Weltwirtschaft darstellt, die sich gerade erst von der COVID-19-Pandemie erholt und sich an die Herausforderungen des Klimawandels anzupassen versucht.
Zunächst herrschte innerhalb der G20 keine Einigkeit über die Haltung zu Putins Aggression und den Sanktionen, die die EU und die G7 gegen Russland verhängt hatten. Selbst nach dem ersten Tag des Gipfels bestand noch keine Gewissheit, dass diese Differenzen überwunden werden können.
Meiner Meinung nach haben jedoch zwei außergewöhnliche Ereignisse den Verlauf der Verhandlungen auf Bali verändert.
Zunächst nutzte der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskyi die Einladung des indonesischen Präsidenten, des Gastgebers des Gipfels, um vor den G20 einen 10-Punkte-Plan für Friedensverhandlungen vorzustellen. Es ist bezeichnend, dass der ukrainische Präsident die nukleare Sicherheit sowie die Nahrungsmittel- und Energiesicherheit an die erste Stelle setzte und auf die globalen Folgen des Krieges hinwies. Schließlich betonte Zelenskyi, dass das Kriegsende und die friedliche Beilegung des Konflikts unmöglich sind, wenn eine der Parteien die andere systematisch zerstört.
Demonstration der Stärke
Und am Abend, als sich die G20-Staats- und Regierungschefs auf ein Galadinner vorbereiteten, beschoss Russland ukrainische Städte und feuerte 96 Marschflugkörper und ein Dutzend iranische Kamikaze-Drohnen ab. Der demonstrative Angriff Russlands war eine Reaktion auf die Friedensvorschläge der Ukraine. Es war eine Demonstration der Stärke, mit der die russische Seite seit neun Monaten versucht, die Kontrolle über die Ukraine zu erlangen und sich die besetzten Gebiete anzueignen.
Darüber hinaus sind infolge des russischen Raketeneinschlags zwei Menschen in Polen ums Leben gekommen. Dieser Zwischenfall führte zu einer Dringlichkeitssitzung der NATO, um eine Antwort auf Russlands Handlungen zu finden. Vielleicht hoffte Putin, dass sein Handeln eine noch größere Spaltung und Widersprüche zwischen dem Westen, China und den Staaten des globalen Südens, die Peking, Brüssel und Washington gleichermaßen misstrauen, hervorrufen würde. Das tatsächliche Ergebnis war aber ganz anders.
China konnte das Vorgehen Putins nicht mehr stillschweigend billigen
Als erstes erlitt der Kreml politische Verluste in den Beziehungen zu China. Der chinesische Staatschef konnte nicht so tun, als sei nichts geschehen. Nachdem die wichtigsten Handelspartner Chinas den russischen Angriff offen verurteilt hatten, konnte China das Vorgehen Putins nicht mehr stillschweigend billigen.
Die Unterstützung von Putins Terroranschlag würde für den chinesischen Staatschef Xi Jinping bedeuten, dass er alle Errungenschaften in persönlichen bilateralen Verhandlungen verliert. Sie würde insbesondere die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit den Niederlanden über die Lieferung von Mikrochips, Kontakte mit der neuen italienischen Regierung über eine gemeinsame High-Tech-Produktion, die Vertiefung des Handels mit Spanien und die Beilegung von Handelsstreitigkeiten mit den Vereinigten Staaten gefährden. Darüber hinaus würde die Unterstützung der Aggression eines großen Staates gegen seinen Nachbarn die Glaubwürdigkeit Chinas bei Verhandlungen mit kleinen und mittleren Ländern der asiatisch-pazifischen Region im Rahmen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) untergraben.
Mit der Annahme des Textes der G20-Abschlusserklärung, in der Russland verurteilt wurde, entschied sich Xi Jingping für Wirtschaft und Verhandlungen.
Zweitens haben sich die meisten Staaten des globalen Südens von Russland durch dessen Aggression abgewandt. Den diplomatischen Quellen der Financial Times zufolge wollten die Delegationen Mexikos, Argentiniens und Saudi-Arabiens verhindern, dass der G20-Gipfel zu einem Konflikt zwischen der G7 mit Russland und China wird, bei dem die übrigen Länder Partei ergreifen müssten. Auch Indonesien, der Gastgeber des Gipfels, versuchte um jeden Preis zu vermeiden, dass das G20-Treffen als Beginn des "zweiten Kalten Krieges" in die Geschichte eingeht. Indien, das im nächsten Jahr Gastgeber der G20 sein wird, und Brasilien, das 2024 den G20-Vorsitz übernehmen wird, waren ebenfalls unzufrieden mit den Aussichten, die letzten Gastgeber eines solchen Formats multilateraler Verhandlungen zu sein, ganz zu schweigen von dem Risiko, eine solche Gelegenheit durch eine Spaltung zu verlieren.
Als Folge davon werden die größten Staaten des globalen Südens nach dem Bali-Gipfel Putins Russland nicht mit Größe und billigem Öl, sondern mit Erpressungsdiplomatie und wirtschaftlichen Verlusten in Verbindung bringen.
Russland lehnte Ausweitung des Getreideabkommens ab
Drittens scheiterte die Erpressung Russlands, die darauf abzielte, die Sanktionen im Gegenzug für die Freigabe der ukrainischen Getreideexporte aufzuheben. Die Vereinbarung über den humanitären Getreidekorridor wurde um weitere 120 Tage verlängert. Der Ukraine ist es gelungen, ihre Forderung - die Freilassung aller Kriegsgefangenen und deportierten Personen durch Russland - aufrechtzuerhalten, um die Wiederaufnahme des Transports von russischen Düngemitteln aus ukrainischen Häfen zu vereinbaren.
Russland lehnte jedoch die Ausweitung des Getreideabkommens auf zwei Getreideterminals in Mykolaiv mit einer Kapazität für den Getreideumschlag von 6,5 Millionen Tonnen Getreide pro Jahr ab. Dies würde ausreichen, um die jährlichen Importe Nigerias zu decken. Daher sollte die Frage der Verantwortung der Länder für die künstliche Verknappung von Nahrungsmitteln und die Bildung von globalen Getreidereserven unter der Schirmherrschaft der UNO das Hauptthema des nächsten G20-Gipfels in Indien sein.
Petro Burkovskiy, Exekutivdirektor von Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation.
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