Nor­man­die-Format und Tri­la­te­rale Kon­takt­gruppe von Minsk: Kann man die Wege zusam­men­zu­füh­ren?

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6 May 2020
Mariia Zolkina

Head of Regional Security and Conflict Studies at the Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation, Research Fellow at the London School of Economics and Political Science

Der Gipfel von Paris im Dezem­ber 2019 sollte dem Ver­hand­lungs­pro­zess im Nor­man­die-Format neue Dynamik ver­lei­hen und außer­dem die Umset­zung des Minsker Abkom­mens inten­si­vie­ren. Dennoch scheint es so, dass die Tri­la­te­rale Kon­takt­gruppe von Minsk auch in den fünf Monaten nach dem Gipfel der Nor­man­die-Ver­hand­lungs­füh­rer nicht in der Lage war, bedeu­tende Ver­ein­ba­run­gen zu treffen und greif­bare Fort­schritte zu erzie­len. Ein wei­te­rer Gipfel ist unter diesen Bedin­gun­gen einfach nicht möglich. Warum hat die Tri­la­te­rale Kon­takt­gruppe wieder einen Still­stand erreicht? Gibt es eine Mög­lich­keit, die Wege des Nor­man­die-Formats und des Minsker Abkom­mens auf eine sinn­volle Weise zusam­men­zu­füh­ren? Wie sehen Russ­land und die Ukraine die Ent­wick­lung der bis­he­ri­gen Ver­hand­lun­gen? Von Mariia Solkina

Die Ergeb­nisse der Tele­fon­kon­fe­renz zwi­schen den Außen­mi­nis­tern im Nor­man­die-Format am 30. April waren relativ konkret. Deshalb haben die Minis­ter keinen Gipfel der Staats­ober­häup­ter ver­ein­bart, sondern sich auf ein Vor­an­trei­ben der Minsker Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe ver­stän­digt. Nach dem Gipfel von Paris sollte eine Reihe drin­gen­der Maß­nah­men umge­setzt werden. Keine davon ist poli­tisch. Die Ent­schei­dun­gen in Sicher­heits- und huma­ni­tä­ren Fragen müssen den Hin­ter­grund für den Über­gang zu den poli­ti­schen Vor­keh­run­gen der Minsker Abkom­men schaf­fen. Tat­säch­lich wurde keine dieser unmit­tel­ba­ren Maß­nah­men voll­stän­dig umge­setzt. Ins­be­son­dere bezie­hen sie sich auf solche Auf­ga­ben wie einen vollen Waf­fen­still­stand, einen Minen­räu­mungs­plan, die Ver­ein­ba­rung dreier neuer Abzugs­ge­biete, die Ein­rich­tung neuer Über­tritts­punkte sowie die unein­ge­schränkte Arbeit der OSZE-Son­der­be­ob­ach­tungs­mis­sion. Selbst der Aus­tausch Gefan­ge­ner, der nach dem Pariser Gipfel zwei Mal statt­ge­fun­den hat, war ein­sei­tig und fand nicht auf glei­cher Basis statt – und kann dadurch auch nicht als greif­ba­rer Fort­schritt gewer­tet werden.

Deshalb sollten die Außen­mi­nis­ter die Pro­bleme bei der Umset­zung von Ver­ein­ba­run­gen nach dem Pariser Gipfel „filtern“ und der Arbeit der Minsker Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe einen Impuls geben. Laut dem Außen­mi­nis­ter der Ukraine wären die Minsker Gesprä­che effek­ti­ver, wenn die Teil­neh­mer am Nor­man­die-Format diesem tak­ti­schen Prozess „näher“ wären, ihn beob­ach­ten und beein­flus­sen könnten. Obwohl auch diese Tele­fon­kon­fe­renz keine ernst­hafte Wirkung für eine Akti­vie­rung der Minsker Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe gebracht hat, so gibt es doch einige wich­tige Signale. Sie tragen zum Ver­ständ­nis dazu bei, wie die Betei­lig­ten sich ver­hal­ten werden.

Gründe für das Minis­ter­tref­fen und unsicht­bare, aber wich­tige Ergeb­nisse

Erstens, eine engere Ein­bin­dung von Diplo­ma­ten in die Ver­hand­lun­gen redu­ziert das Risiko einer ver­steck­ten Logik infor­mel­ler Deals mit Russ­land. Der infor­melle Kanal unter der Führung von Andrij Jermak auf ukrai­ni­scher Seite hat die beinah domi­nie­rende Rolle in den Ver­hand­lun­gen mit Russ­land seit der Amts­über­nahme von Prä­si­dent Selen­skyj über­nom­men. Der Kon­sul­ta­tiv­rat, eine sehr risi­ko­rei­che Initia­tive, war eben­falls eine Idee, die haupt­säch­lich aus diesem Kanal ent­stan­den war. Zwei­tens bestimmte die Logik „Sicher­heit – zuerst“ zunächst die all­ge­meine Linie für ukrai­ni­sche Diplo­ma­ten, während Russ­land darauf bestand, zuerst poli­ti­sche Vor­keh­run­gen zu treffen. Wenn es nach dem Gipfel von Paris keinen Fort­schritt in drin­gen­den Ange­le­gen­hei­ten geben sollte, dann fordert Moskau die Umset­zung „emp­foh­le­ner“ Schritte (die Stein­meier-Formel und einen „Son­der­sta­tus“ für besetzte Gebiete). Russ­lands Logik besteht in der Idee, den direk­ten Dialog mit den selbst­er­nann­ten „Repu­bli­ken“ um jeden Preis anzu­trei­ben.

Drit­tens werden huma­ni­täre Pro­bleme auch wei­ter­hin unter einem Mangel an Auf­merk­sam­keit leiden. Es gibt keinen Fort­schritt hin­sicht­lich neuer Über­tritts­stel­len. Das Rote Kreuz ist noch immer nicht in der Lage, seiner Arbeit in den besetz­ten Gebie­ten unein­ge­schränkt nach­zu­kom­men. Außer­dem haben während der Qua­ran­täne die selbst­er­nann­ten Behör­den den Zugang zu ihrem Ter­ri­to­rium kom­plett abge­rie­gelt, selbst für Men­schen, die vor Ort regis­triert sind.

Und vier­tens, eines der wich­tigs­ten Ergeb­nisse ist wohl das „Ende“ der Arbeit des Kon­sul­ta­tiv­rats in der am 11. März vor­ge­schla­ge­nen Vari­ante. Diese Frage, die übri­gens dem Ansatz Moskaus „Politik – zuerst“ ent­spricht, wurde während der Tele­fon­kon­fe­renz der Minis­ter einfach nicht ange­spro­chen. Der rus­si­sche Außen­mi­nis­ter Lawrow erklärte seine Posi­tion, aber keiner der anderen Diplo­ma­ten unter­stützte die Dis­kus­sion. Das bedeu­tet nicht, dass Russ­land keine Ver­su­che zur Unter­stüt­zung der Idee des „direk­ten Dialogs“ mehr unter­neh­men wird. Das bedeu­tet auch nicht, dass die ukrai­ni­schen Ver­hand­ler der Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe und Jermak nicht ein anderes Modell für ein Kon­sul­ta­tiv­or­gan vor­schla­gen werden. Aber es bedeu­tet einer­seits, dass zumin­dest ein vor­läu­fi­ges abge­stimm­tes Format nicht akzep­ta­bel ist und weder von ukrai­ni­schen Diplo­ma­ten noch von den Part­nern im Nor­man­die-Format unter­stützt wird. Ande­rer­seits ist eine neue Patt-Situa­tion in der Minsker Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe ziem­lich wahr­schein­lich gewor­den.

Minsker Tri­la­te­rale Kon­takt­gruppe – Reform­be­darf?

Auch wenn es kein Kon­sul­ta­tiv­or­gan geben wird, dann wird Russ­land andere Instru­mente ein­set­zen, um sein Haupt­ziel zu errei­chen: die Rolle der selbst­er­nann­ten Behör­den in den Ver­hand­lun­gen zu ver­än­dern. Eines dieser Instru­mente wurde bereits von Moskau vor­ge­stellt. Das ist eine „Reform“ der Minsker Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe ins­ge­samt. Ins­be­son­dere initi­ierte Moskau die maxi­male For­ma­li­sie­rung der Minsker Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe mit for­ma­len Vor­schrif­ten, der Unter­zeich­nung bin­den­der Doku­mente nach jedem Treffen und deren Ver­öf­fent­li­chung. All diese Vor­schläge wurden mit einer Erhö­hung der Trans­pa­renz und Wirk­sam­keit der Minsker Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe erklärt.

Obwohl die Reform der Minsker Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe für die Ukraine bereits viel früher Prio­ri­tät hatte, gibt es im aktu­el­len Modell Russ­lands nichts, was Zufrie­den­heit her­vor­ru­fen könnte. Die Idee, die Minsker Tri­la­te­rale Kon­takt­gruppe zu for­ma­li­sie­ren, beinhal­tet auch Druck von­sei­ten Moskaus, dass alle neuen Doku­mente von Pseudo-Beamten und „Auto­ri­sier­ten Ver­tre­tern bestimm­ter Regio­nen in den Gebie­ten Donezk und Luhansk“ unter­zeich­net werden müssen. Dieser neue „Status“ erschien erst­mals im Pro­to­koll vom 11. März 2020, obwohl sie keine legi­time Basis für eine der­ar­tige „Auto­ri­sie­rung“ von Pseudo-Beamten dar­stell­ten. Der bin­dende Status neuer Doku­mente in der Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe würde außer­dem die Rolle der Stell­ver­tre­ter Russ­lands in den Ver­hand­lun­gen stärken.

Die Minsker Tri­la­te­rale Kon­takt­gruppe ist keine inter­na­tio­nale Orga­ni­sa­tion, genauso wie die Minsker Abkom­men poli­ti­sche Ver­ein­ba­run­gen und keine inter­na­tio­na­len Ver­träge sind. Dadurch ergibt sich für die Ukraine einer­seits die Not­wen­dig­keit, Russ­land und seine Stell­ver­tre­ter zur Ein­hal­tung ihrer Ver­pflich­tun­gen aus den Minsker Abkom­men anzu­mah­nen. Ande­rer­seits gibt es absolut keine Garan­tien, dass sie diese ein­hal­ten werden. Abge­se­hen davon nennt keines der Doku­mente des Minsker Abkom­mens expli­zit Russ­land als die andere Seite im Kon­flikt. Dadurch for­ma­li­siert ein obli­ga­to­ri­scher Status der Pro­to­kolle und Ent­schei­dun­gen nur Russ­lands For­de­run­gen nach einem direk­ten Dialog zwi­schen der Ukraine und den selbst­er­nann­ten Behör­den, die hier eine „auf­ge­wer­tete“ Rolle zuer­kannt bekom­men. Bisher wurde eine der­ar­tige „Reform“ weder von der Ukraine noch von Deutsch­land oder Frank­reich unter­stützt. Dies war deshalb nicht der Fall, weil klar war, welches Ziel Russ­land mit der­ar­ti­gen Modi­fi­zie­run­gen ver­folgte.

Gleich­zei­tig prä­sen­tier­ten die Ver­hand­lungs­füh­rer der Ukraine ihre eigene Vision von einer Reform der Minsker Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe. Das beinhal­tet auch eine gewisse „Restruk­tu­rie­rung“ für eine klarere Agenda sowie einer wei­te­ren natio­na­len Umset­zung der Ent­schei­dun­gen. Ins­be­son­dere Andrij Jermak kün­digte an, weitere Ver­tre­ter der Ukraine in jede Arbeits­gruppe der Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe zu ent­sen­den. Diese Ver­tre­ter werden keinen gerin­ge­ren Rang als Stell­ver­tre­tende Minis­ter haben. Zusätz­lich werden einige der Mit­glie­der des Par­la­ments an den Akti­vi­tä­ten der Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe betei­ligt sein. Es ist also das Ziel der Ukraine, die natio­nale Dele­ga­tion zu stärken, ohne die der­zei­tige Zusam­men­set­zung von Minsk zu zer­stö­ren. Höchst­wahr­schein­lich wird Russ­land keine ähn­li­chen Schritte unter­neh­men, sondern sich statt­des­sen zurück­zie­hen wollen.

„Kon­sul­ta­tio­nen über die Kon­sul­ta­tio­nen“

Was kommt als Nächs­tes? Anstatt Schluss­fol­ge­run­gen aus der Minsker Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe zu ziehen, gibt es jetzt „Kon­sul­ta­tio­nen über die Kon­sul­ta­tio­nen“. Das bedeu­tet, dass die Ver­hand­lungs­füh­rer der ukrai­ni­schen Seite ver­su­chen, ein anderes Modell zu finden, das sich besser eignet, die Stimme des besetz­ten Donbas in die Minsker Ver­hand­lun­gen ein­zu­bin­den. Gleich­zei­tig hat die Ukraine sich nicht offi­zi­ell aus dem Kon­sul­ta­tiv­rat zurück­ge­zo­gen. Kyjiw erwägt ein anderes Modell, das etwa intern Ver­trie­bene, die im kon­trol­lier­ten Gebiet leben, mit­ein­be­zieht. Laut einer Erklä­rung der wich­tigs­ten ukrai­ni­schen Ver­hand­lungs­füh­rer besteht die Not­wen­dig­keit, das Monopol der selbst­er­klär­ten Behör­den für eine „Reprä­sen­ta­tion“ des Donbas aus­zu­he­beln. Für Kon­sul­ta­tio­nen, die durch die Minsker Abkom­men bereits vor­be­stimmt sind; mit gesetz­li­chen, aber nicht mit den selbst ernann­ten Ver­tre­tern des Donbas.

Das klingt theo­re­tisch gut, aber beant­wor­tet die wich­tigste Frage noch immer nicht. Wie wird die zweite Seite in diesen „Fach­be­ra­tun­gen“ besetzt? Sobald die Ukraine Ver­tre­ter aus den besetz­ten Gebie­ten nomi­niert (Bin­nen­ver­trie­bene plus weitere Exper­ten oder Mei­nungs­füh­rer), wird Russ­land nicht ein­ver­stan­den sein. Wenn Men­schen, die von den selbst­er­nann­ten „Repu­bli­ken“ ernannt werden (wie das vom Kon­sul­ta­tiv­rat vor­ge­se­hen wird), dann kehren wir ohne­dies zum direk­ten Dialog mit Stell­ver­tre­tern Russ­lands zurück. Selbst wenn diese Men­schen als „Zivi­lis­ten“ oder „zivile Akti­vis­ten“ prä­sen­tiert werden, so stehen sie immer im direk­ten Kontakt mit den selbst­er­nann­ten Behör­den. Niemand von rus­si­scher Seite würde die Teil­nahme unab­hän­gi­ger Per­so­nen im Namen des besetz­ten Donbas zulas­sen. Deshalb ist aktuell die wich­tigste Aufgabe, die Nomi­nie­rung von „Ver­tre­tern“ durch oder in Abstim­mung mit den selbst­er­nann­ten Beamten zu ver­hin­dern.

Ein neues Format für die Kon­sul­ta­tio­nen mit „Stimmen“ aus dem besetz­ten Donbas sollten nicht nur zwi­schen der Ukraine einer­seits und den „Volks­re­pu­bli­ken“ ande­rer­seits statt­fin­den. In dieser Hin­sicht gibt es mehrere mög­li­che Optio­nen. Zunächst geht es darum, die der­zei­tige ukrai­ni­sche Dele­ga­tion der Ukraine bei der Minsker Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe mit von der Ukraine nomi­nier­ten Exper­ten zu „stärken“. Ein wei­te­res Mit­glied der Gruppe, Russ­land, könnte die­selbe Option für die Teil­nahme von Exper­ten nutzen. Außer­dem könnte man Exper­ten­platt­for­men ein­set­zen, welche die Zusam­men­set­zung der Tri­la­te­ra­len Kon­takt­gruppe spie­geln. Dadurch wären nur die Dele­ga­tio­nen der Ukraine und Russ­lands voll­wer­tige Mit­glie­der. Ver­tre­ter aus bestimm­ten Gebie­ten werden ein­ge­la­den. Die dritte Option wurde vom Zivil­rat unter der Schirm­herr­schaft des Außen­mi­nis­te­ri­ums der Ukraine vor­ge­schla­gen. Dabei geht es ins­be­son­dere um die Schaf­fung eines unab­hän­gi­gen bera­ten­den Aus­schus­ses durch die Ukraine. Das wird es der Ukraine ermög­li­chen, all jene Zivi­lis­ten, Bin­nen­ver­trie­bene sowie Exper­ten, die die besetz­ten Gebiete ver­las­sen haben, oder die pro­fes­sio­nell an Kon­flikt­lö­sun­gen arbei­ten, ein­zu­be­zie­hen.

Eine end­gül­tige Ent­schei­dung wurde von der ukrai­ni­schen Dele­ga­tion bisher nicht getrof­fen. Aber die Wahr­schein­lich­keit ist immer noch hoch, dass ein gewähl­tes Format, in dem die „Ver­tre­ter“ des besetz­ten Donbas de-facto von den Pseudo-Repu­bli­ken nomi­niert werden, ein­ge­setzt wird.

Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Ingrid Müller.